Benötigen wir das wirklich?


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Wir kommen aus einer Ära eines nahezu unbegrenzten Angebots. In den vergangenen Jahrzehnten liessen sich praktisch alle Warenwünsche erfüllen, ohne dass die Preise grossartig gestiegen wären. Die Globalisierung machte es möglich. Wenn es an irgendetwas fehlte, liessen sich irgendwo auf dem Erdball andere Lieferanten auftun. Nun ist plötzlich alles Mögliche knapp: Stahl, Aluminium, Computer, Chips, Papier, Holz, Fahrräder und vieles mehr. Die Zeiten des Überflusses scheinen vorbei, Knappheiten machen sich an allen Ecken bemerkbar. Auch in meinem Alltag: So bekam ich kürzlich ein Telefon von meinem Garagisten, dass das neue Auto, das ich bestellt habe, nicht wie geplant fabriziert werden kann, da momentan keine Rückfahrkameras zur Verfügung stehen – Lieferfrist unbekannt. Vorschlag der Citroën-Werkstätte Sensoren einzubauen und mir als «Goodie» noch die Keyless-Variante gratis zu integrieren. Mit diesem Deal kann ich problemlos leben. Etwas weniger erfreut bin ich, wenn das Regal in der Apotheke mit meiner Medizin für meinen anspruchsvollen Darm, auf die ich wirklich angewiesen bin, nicht mehr zu haben ist – Lieferfrist unbekannt. Dann beeinträchtigen diese verzögerten Lieferketten irgendwie ganz leicht meine Lebensqualität – unangenehm!

    Überspitzt gesagt, haben wir selbst in der verwöhnten und reichen Schweiz manchmal Zustände wie im kommunistischen Kuba. Man weiss nie, wenn etwas nicht im Regal steht, dort – wo sonst nie leere Regale sind – und es schwant einem Ungemach. Wie jetzt – haben die nicht aufgefüllt, gibt es da noch Nachschub im Lager oder ist dieses Produkt für unbekannte Zeit nicht lieferbar oder sogar ganz vergriffen? Der Gang zur Apotheke ist für mich seit einem halben Jahr jedes Mal «Russisch Roulette». Ich weiss nie – bekommen ich jetzt, was auf dem Dauerrezept steht oder ist es auf unbestimmte Zeit nicht erhältlich? Besonders schwierig wird es, wenn sämtliche Alternativen auch nicht an Lager sind, weil sie einen Wirkstoff beinhalten, der zurzeit nicht produziert wird. Da ich mich gerne in Sicherheit wäre, habe ich jetzt angefangen, mir einen kleinen Vorrat anzulegen: Wenn immer möglich, nehme ich gleich zwei oder drei Packungen nach dem Motto «vorgesorgt ist besser als zu darben» oder «was man hat, das hat man!»

    Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Noch immer leben wir im Überfluss und dürfen uns nicht beklagen. Die Schaufensterauslagen in meiner Kleinstadt macht mich kopfschüttelnd. Ich versuche zu begreifen, wie unser System funktioniert, was der Sinn hinter Besitz und immer mehr Besitz, hinter einer Ausbildung mit möglichst guter Aussicht auf viel Geld ist. Ich versuche zu verstehen, was die «raison d’être» all dieser Geschäfte ist. Was kaufen wir uns denn Sachen, die wir nicht benötigen? Ständig neue Kleidung, die man nicht braucht: Unzählige Stifte, süsse Kettchen, Schmuck. Notizbücher und -hefte, etc. Sekunden von Glück, nur kurze Momente. Ich bin mir nicht sicher, ob die es wert sind – ob dieses Glück eine Daseinsberechtigung hat. Manche Dinge haben sie jedoch: Die Kunst, schöne Bilder, die mich jeden Tag aufs Neue erfreuen; Malwerkzeug und Farben, Ballettschuhe, weil man Ballett eben nicht auf Gummisohlen tanzen kann, etc. Es gibt genug wunderbare Sachen, die ich zu einem glücklichen erfüllten Leben brauchen kann, gar keine Frage. Ich bin überhaupt nicht gegen das Kaufen von Dingen. Aber lasst uns doch einfach nur so viel kaufen, wie wir brauchen und zwei Mal überlegen, ob wir diese nun wirklich benötigen. In diesem Sinne sehe ich diese Lieferverzögerung – sofern sie nicht Leib und Leben bedrohen – als Chance unsere Kauflust und evtl. auch Kauffrust gründlich zu überdenken.

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

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